Miscellanea
Miscellanea - die Bezeichnung für Verschiedenes, Gemischtes, Sonstiges: In dieser Rubrik finden Sie in unregelmäßigen Abständen Beiträge, die wir Ihnen einfach nicht vorenthalten können. Zum Einstieg lesen Sie:
Der Tote im Brunnen
Der Umgang mit Ämtern im Allgemeinen und Beamten im Besonderen ist ja bekanntlich nicht immer so ganz einfach. Um so tröstlicher ist es für den Normalbürger, dass sich auch Behörden untereinander in die Haare kriegen können. Im nachfolgenden Fall geht es darum, dass sich ein Beamter der gräflichen Kanzlei erdreistete, einem städtischen Bedienten eine Anweisung geben zu wollen - nämlich einen toten Mann aus dem Brunnen am Markt zu holen. Als dieser sich weigerte, wurde er kurzerhand eingesperrt, worüber sich sich nun der Bürgermeister Johann Heinrich Ortmann beim Direktor der gräflichen Kanzlei beschwert. Es bleibt nur zu hoffen, dass trotz der Kompetenzstreitigkeiten jemand die Entscheidung gefällt hat, den Toten aus dem Brunnen zu bergen. Lesen Sie selbst:
Zur hochgräflichen Stolbergischen Hochlöblichen Cantzley allhier hochverordnete Herren Cantzley director und Räthe
Hochwohl und Hochedelgeborne Vest und hochgelahrte insonders hochzuehrende Herren
Es hat der Herr Amtmann Johann Christian Steiner abermals eine Probe seiner friedliebenden Gesinnung gegen uns abgeleget, indem derselbe diesen Vormittag nach 10 Uhr unsern Nachtwächter Caspar Thonen de facto durch den Amtsdiener Ansinn aus dem Hause holen und auf dem Marckt schleppen lassen, und als Thon sich geweigert den in den brunnen aufm Marckte gestürzten todten Mann herauszuholen, hat der Herr Amtmann Steiner dem Amtsdiener Befehl gegeben, ihn sofort ins Gefängnis zu bringen, da denn Ansinn unter gantz verständlichen Schlägen den Nachtwächter ins Gefängnis gebracht. Wann aber der Nachtwächter als ein Ratsbedienter ohnstreitig unserer Jurisdiction unterworfen und dergleichen tumultuarisch Verfahren ohne vorherige Requisition nicht zu verantworten ist, sondern vielmehr als eine offenbarn Turbation in unsere Erbgerichte angesehen werden musste, als sehen wir uns genötiget Ew. Hochwohl und hochedelgeb. gehorsamst zu imploiren beklagten Herrn Amtmann Steiner auf einen legalen Termin zur Einlassung und Antwort auf diese Klage sub prae-judicio soliti vorzuladen und hoc facto in Rechten zu erkennen und auszusprechen: dass Beklagter sich dieses und dergleichen Eingriffe bei nahmhaffter Straffe zu enthalten, und wegen derer zur Ungebühr verübten Thätlichkeiten an den Nachtwächter Thon zu gebührender Satisfaction angehalten auch alle diesfalls causirte Unkosten prov. liquid. et judic. moderat zu erstatten schuldig. Wir bitten übrigens um behufige Notification und um schläunigen Befehl an den Herrn Amtmann Steiner, dass er unsern Nachtwächter sofort aus dem Gefängniß lassen müsse, weile sonsten die Nachtwache durch selbigen nicht verrichtet werden können; mit schuldigster Hochachtung beharrende Ew. Hochwohl und hochedelgeb.
Gehorsamste Bürgermeister und Rath
Johann Heinrich Ortmann
Stolberg den 5ten Novembris 1766
Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Außenstelle Wernigerode
Rep. H Stolberg-Stolberg B Ortschaften Stadt Stolberg Nr. 76 I Bl. 18-20